Kasimir ist 16 Jahre alt und scheint auf den ersten Blick eigentlich ganz normal zu sein. Seine Mutter Helga, die als
Friseurin in Brezelingen arbeitet, ist trotzdem verzweifelt. Sie ist
der Meinung, dass Kasimir sich anders entwickelt, als seine
Altersgenossen. Auch die Klassenlehrerin ihres Sohnes, hatte bereits beim
letzten Elternabend ausführlich mit ihr darüber gesprochen. Sogar der Schulpsychologe war mit dabei.
Aufgefallen ist Helga
das besondere Verhalten ihres Sohnes bereits im letzten Sommer, als er an einem sonnigen Tag im Juli, spontan nach draußen ging. Den ganzen Tag war er in der Natur
unterwegs. Später kaufte er sich sogar Bücher über Pflanzen und Tiere. Dann begann er auch noch zu fotografieren und kaufte sich dafür sogar extra
eine Spiegelreflexkamera. Helga erfuhr von ihrer Kundin Fr. Neugeer, dass sich ihr Sohn inzwischen auch im Freien
mit Menschen unterhalten würde. Gemeinsam verbrachte Kasimir im vergangenen Sommer mit seinen Freunden - wie er sie nannte - ganze Nächte unter freiem Himmel. Sie grillten und
schliefen unterm Sternenzelt.
Als Kasimir dann damit begann, seiner
Mutter etwas über den Sternenhimmel zu erzählen, das Leben, die
Natur … - da war für Helga klar: Ihr Sohn war nicht normal. Sie
musste das doch wissen. Schließlich war sie als Friseurin Tag für
Tag am Puls der Zeit. Täglich hatte sie dutzende von Gesprächen mit
Eltern, denen sie die Haare schnitt. All diese Kunden erzählten –
ohne Ausnahme – von Kindern, die im Internet lebten, die ihr Handy als einen Teil ihres Körpers
empfanden, Kinder die hunderte (manche sogar tausende) von Freunden
im Internet hatten.
Kasimir hatte gerade mal 8 Freunde – Acht!!!
Und die waren auch noch real, hatten alle kein Handy und konnten beim Sprechen vollständige Sätze bilden. Mit solchen Sonderlingen traf Helgas Sohn sich also fast täglich draußen und verbrachte seine wertvolle
Freizeit mit ihnen. Eine Freizeit, die er doch auch mit mehreren hundert anderen Kindern, im Internet verbringen konnte. Kasimir musste
sich verdammt einsam fühlen dachte sich Helga und bekam ein
schlechtes Gewissen.
Kasimir hat nicht einmal ein
Handy. Und das war auch der Anlass, weshalb Uschi Cyber - seine Klassenlehrerin, die Mutter von Kasimir beim Elternabend dringend um ein Einzelgespräch bat. Frau Cyber
war sehr besorgt, dass Kasimir sich im Unterricht nicht mit seinem
Handy beschäftigen konnte, wie alle anderen Mitschüler auch. Ständig wollte er etwas von der Lehrerin
wissen, wollte Rechenaufgaben lösen oder sogar mit der Klasse
diskutieren. Und das Schlimmste für Frau Cyber war: Immer wenn
Kasimir neben ihr an der Tafel stand, um etwas zu schreiben, hatte
sie kein Netz mehr für ihr Handy. Irgendwie stand er ihr im Weg.
Auch seine Rechtschreibung war auffallend gut, sie konnte keine Fehler bei
ihm entdecken. Wie machte Kasimir es nur, dass er fehlerfrei an die
Tafel schreiben konnte, und das ohne Rechtschreibprogramm?
Die
Lehrerin hatte den schrecklichen Verdacht, dass Kasimir zu Hause Bücher
liest. Und zwar nicht nur ein paar, sondern viele – sehr viele. Das
war nicht normal, da war sich Frau Cyber sicher. Hier war
Gesprächsbedarf vonnöten - beim Elternabend. Eigentlich hätte Uschi Cyber die
Elternabende ja lieber in einem Chatraum abgehalten, aber dafür war der
Internetanschluss der Schule noch nicht ausgelegt. Also musste sie alle Eltern persönlich begrüßen und sich auch zum Teil mit ihnen von Angesicht zu Angesicht unterhalten, das widerte sie unheimlich an. Aber es lief alles sehr gut und der Elternabend war für die junge Lehrerin nicht annähernd so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Manchen der Eltern hatte sie sogar die Hände geschüttelt. Ein ganz neues und aufregendes Gefühl für Uschi.
Nach dem
Elternabend waren sich die Klassenlehrerin Frau Cyber, der Schulpsychologe Herr Pfundbyte und Helga
einig. Wenn Kasimir so weitermacht, wird er
nicht nur den Anschluss an das Mobil- und Festnetz verlieren –
nein, schlimmer noch: Er würde mit Sicherheit durch die Maschen all
dieser Netze fallen. Sogar durch das mächtige Netz des World Wide
Web. Soweit darf es nicht kommen, da waren sich alle drei einig.
Kasimir wird bereits jetzt vom Schulpsychologen als eindeutig
„Schwererziehbar“ eingestuft. Damit er es noch schafft, seinen Platz in
der "Cybersozialen Gesellschaft" nicht zu verlieren, hat Helga ihn jetzt von
der Schule genommen.
Kasimir wird in Zukunft in einem Elektronikmarkt
eine Ausbildung machen. Mitten in einer schwäbischen Großstadt - weit
weg von der Natur. Seine Mutter Helga, Fr. Cyber und der
Schulpsychologe haben immer noch die stille Hoffnung, dass die
Mobilfunkstrahlung in der Stadt stark genug ist, um einen positiven
Einfluss auf die Entwicklung von Kasimir zu nehmen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen